Eine Kindheit in den Niederlanden

Wie bereits in einem früheren Blogbeitrag beschrieben, wurde die spätere Gräfin Schwerin 1683 oder 1684 in Wesel im Herzogtum Kleve in eine niederrheinische Offiziersfamilie geboren.^[1] Nach dem frühen Tod ihrer Mutter behielt der Vater die etwa dreijährige Charlotte Luise noch eine Weile bei sich und schickte sie dann zu seinem Bruder und dessen Frau in die Niederlande.

Aus den Memoiren Charlotte Luises erfahren wir, dass ihre Mutter selbst eine entsprechende Absprache mit ihrer Schwägerin getroffen hatte.^[2] Dass Kinder nach dem Tod der Mutter nicht im Haushalt des Vaters, sondern bei Verwandten großgezogen wurden, war eine übliche Praxis in einer Zeit, in der auf Grund der hohen allgemeinen Sterblichkeit viele Waisen und Halbwaisen gab. Die Memoiren der Gräfin Schwerin berichten allein aus ihrem engsten Familienumkreis von vier weiteren Fällen, in denen Mädchen von einer Schwägerin ihrer verstorbenen Mutter erzogen wurden.

Charlotte Luise kam in einen Haushalt, in dem zwei bereits ältere Ehepaare zusammenwohnten: Ihr Onkel Friedrich Wilhelm von Heyden (†1690) und dessen Frau Elisabeth van Arnhem (†1707) sowie deren Schwester Janne Margriete van Arnhem (1659–1721) und ihr Mann Jan van Arnhem (1636–1716).^[3] Beide Paare waren kinderlos und nahmen ihre kleine Nichte mit Freude bei sich auf. Diese verbrachte in der Folge ihre ganze Kindheit und Jugend auf Schloss Rosendael in der niederländischen Provinz Geldern.

Die Gräfin lässt uns in ihren Memoiren an einigen ihrer Kindheitserinnerungen teilhaben. So berichtete sie, dass ihr Onkel Friedrich Wilhelm, der wie ihr Vater General war, in einer großen Schlacht (vermutlich der Schlacht bei Fleurus im Pfälzischen Erbfolgekrieg am 1. Juli 1690) verwundet wurde. Er wurde in Brüssel gepflegt und die Tante reiste zu ihm und blieb bis zu seinem Tod bei ihm. Bei ihrer Rückkehr nahm sie Charlotte Luise weinend in den Arm und überbrachte ihr den Segen des Onkels. Der Gouvernante erzählte sie von der hingebungsvollen Pflege, die dieser in Brüssel von katholischen Nonnen erhalten hatte. Die Gräfin zitierte ihre Tante, die wie die ganze Familie eine überzeugte Calvinistin war, mit den Worten: „In Wahrheit, sagte sie, haben die Menschen dieser Religion viel mehr Nächstenliebe als wir, die wir uns für so viel aufgeklärter halten.“^[4] Durch diese Äußerung wollte die Gräfin ihren Memoiren zufolge erstmals neugierig auf den katholischen Glauben geworden sein.

Während sie ihre Verwandten als vorbildliche Menschen charakterisierte, äußerte die Gräfin sich insofern kritisch über ihre Erziehung, als sie meinte, zu sehr verwöhnt worden zu sein: „Diese Familie hatte keine Kinder. Sie begannen alle drei,^[5] mich abgöttisch zu lieben, und diese so verdienten und tugendhaften Personen ließen sich (wenn ich es wagen darf, diesen Ausdruck zu gebrauchen) am Gängelband eines verwöhnten Kindes führen. Ich verteilte meine Gunst und durfte wie ein Schiedsrichter urteilen und Vorschläge machen. Wenn man mir zur Strafe für eine Stunde einen Teil meines Vergnügens entzog, war das ganze Haus in Bewegung, damit ich am nächsten Tag etwas noch Verlockenderes erhielt. Dies war in etwa meine Erziehung in den ersten Jahren meines Lebens [..].“^[6]

Diese Ausführungen sind jedoch nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, denn sie geben einen zu dieser Zeit verbreiteten Allgemeinplatz wieder: In vielen Reiseberichten wurden niederländische Kinder als verzogen beschrieben, und Niederländer ihrerseits lobten die freundlichen und braven Kinder, die sie im Ausland trafen; moralisierende Traktate, Komödien und sogar Sprichwörter lasteten die angebliche Unerzogenheit niederländischer Kinder der übertriebenen Nachsichtigkeit ihrer Mütter an.^[7] Dieser Topos wird in der Forschung mit einer Mentalitätsverschiebung in Verbindung gebracht: Demnach kam es in der niederländischen Mittelschicht des 17. Jahrhunderts zu einer Art „Entdeckung der Kindheit“, die dazu führte, dass Eltern hier früher als anderswo begannen, kindlichem Verhalten mit Verständnis als Ausdruck einer besonderen Lebensphase zu begegnen, mehr Geld und Zeit in die Erziehung ihrer Kinder und zu investieren und der emotionalen Bindung zwischen Erwachsenen und Kindern einen höheren Stellenwert beizumessen, als es zuvor üblich gewesen war.

Als Kind verwöhnt und dadurch zu einer oberflächlichen jungen Frau erzogen worden zu sein, passte gut in die allmähliche Bekehrungsgeschichte, als die die Gräfin ihren Lebensweg in ihren Memoiren darstellte. Sie stellte ihre Erinnerungen daher oft in religiöse Bezüge: So wies sie etwa die Worte Jan van Arnhems beim ersten Wiedersehen nach ihren ersten drei in Berlin verbrachten Ehejahren, er könne nun beruhigt sterben, da er sie noch einmal gesehen habe, als Zitat des Ausspruchs Simeons beim Anblick des Jesuskinds aus (Lukas 2, 29–32).^[8] Auf dem Umweg über solche fromme Bemerkungen gelang es der Gräfin aber auch, ihre Leser:innen wie nebenbei darüber zu informieren, dass sie aus einer Familie stammte, in der sie geschätzt und geliebt worden war. Implizit baute sie damit einen Kontrast zur Familie ihres Mannes auf, die sie 1720 wegen ihrer Konversion zum katholischen Glauben verstoßen hatte und ihr das Vermögen vorenthielt, das sie in die Ehe eingebracht hatte – denn dies war die Situation, in der sie ihre Memoiren in den frühen 1720er-Jahren im Exil niederschrieb.

Wie wohlhabend und angesehen die Arnhems waren, machte die Gräfin in ihren Memoiren sehr deutlich: So heißt es gleich zu Beginn, der Schwager ihrer Tante – also Jan van Arnhem – habe hohe Ämter bekleidet und sei von allen geschätzt und respektiert worden. Beides traf zu: Jan van Arnhem war unter anderem Bürgermeister von Arnhem und nicht zuletzt verband ihn und seine Frau Margriete eine enge persönliche Freundschaft mit dem niederländischen Statthalter Wilhelm von Oranien und dessen Frau, der englischen Königin Maria II., die sich beide oft auf Schloss Rosendael aufhielten.^[9] Dies erwähnte die Gräfin in ihren Memoiren zwar nicht, es wird aber auch in ihrer Erzählung deutlich, dass auf Schloss Arnhem geselliges Leben herrschte.

Sie berichtete auch, dass viele Besucher ihr schon als Kind schmeichelten – einerseits, um sich beim Schwager ihrer Tante beliebt zu machen, andererseits aber auch, weil sie als Alleinerbin des umfangreichen Arnhemschen Vermögens eingesetzt werden sollte. Auch ihre Stiefmutter Charlotte Luise, geborene von Schwerin (1672–1748) und seit 1691 die zweite Ehefrau des Vaters unserer Charlotte Luise, bemühte sich schon früh, die Ehe ihrer Stieftochter mit ihrem jüngeren Bruder Friedrich Wilhelm (1678–1725) anzubahnen, die dann letztlich 1704 auch tatsächlich zustande kam. Die Gräfin berichtete in ihren Memoiren, sie habe die Stiefmutter als Kind zunächst abgelehnt, sich dann aber von ihrem Charme und ihren Erzählungen vom glänzenden Berliner Hofleben umstimmen oder vielmehr manipulieren lassen. Die Memoiren lassen wenig Zweifel daran, dass die Stiefmutter, die dann zusätzlich zur Schwägerin wurde, dabei vor allem das voraussichtliche große Erbe im Blick hatte.

Ihre Tante Elisabeth van Arnhem war dagegen die wichtigste Bezugsperson ihrer Kindheit und Jugend. Über den Umgang der kleinen Charlotte Luise mit anderen Kindern erfahren wir aus den Memoiren nur, dass sie eng mit einer Kusine befreundet war, die bei einem weiteren Onkel aufwuchs. Die beiden besuchten sich immer wieder für längere Zeitspannen und waren „unzertrennlich“.^[10] Dieses herzliche Verhältnis blieb offenbar lebenslang erhalten, wenngleich sie sich beim letzten Besuch der Gräfin in den Niederlanden 1708 zum letzten Mal gesehen haben dürften. Sie wünschte sich aber noch zum Zeitpunkt der Niederschrift ihrer Memoiren, diese Kusine wieder in ihrer Nähe haben zu können.^[11]

Ansonsten erinnerte sie sich daran, dass sie sich als Kind oft und gerne stundenlang allein in unterschiedlichen Winkeln entweder des Schlosses oder des Gartens beschäftigte und in dieser Zeit für ihre Familie unauffindbar war. Damit fanden auch die berühmten Gartenanlagen von Schloss Arnhem zumindest eine beiläufige Erwähnung in den Memoiren. Sie waren seit 1667 von Jan van Arnhem angelegt worden und für einen barocken Garten ungewöhnlich unregelmäßig und naturnah gestaltet und harmonisch in das natürliche, für Geldern untypisch hügelige Terrain eingebettet. Wilhelm von Oranien und Königin Maria II. bezeichneten diesen Garten als einen ihrer Lieblingsaufenthaltsorte und die Forschung geht von einem Einfluss der Anlagen in Rosendael auf die Entwicklung des späteren Typus des Englischen Landschaftsgartens aus.^[12]

Ein folgender Blogbeitrag wird die Jugend der Gräfin, ihren Unterricht und das kulturelle Milieu beleuchten, in dem sie aufwuchs.

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[1] Ihre Eltern waren Siegmund von Heyden (1641–1724), preußischer General der Kavallerie, Gouverneur von Lippstadt und Drost zu Wetter, und Anna Luise von Heyden, geborene Freiherrin von Quad zu Landskron (1659–1687). Zum Vater siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Siegmund_von_Heyden ; Theodor Hirsch: Heyden, Friedrich von. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) Bd. 12, Leipzig 1880, S. 350 f. Das Geburtsdatum Charlotte Luises ist nicht bekannt, dokumentiert ist lediglich ihre Taufe in Wesel am 11.02.1684, weshalb dieses Jahr im Allgemeinen als ihr Geburtsjahr genannt wird; dazu siehe https://memoiren.hypotheses.org/349#_ftn3 .

[2] Maurice Daumas und Claudia Ulbrich (Hg.), unter Mitarbeit von Sebastian Kühn, Nina Mönich und Ines Peper: Mémoires de la comtesse de Schwerin. Une conversion au XVIIIe siècle. Bordeaux 2013, S. 78.

[3] Zu Jan und Margriete van Arnhem vgl. https://mijngelderland.nl/inhoud/verhalen/bewoners-van-rosendael-jan-en-janne-margriete-van-arnhem .

[4] “En vérité, disait-elle, les gens de cette religion ont bien plus de charité que nous, qui croyons être plus illuminés.“ Daumas/Ulbrich (Hg.): Mémoires, S. 79.

[5] Gemeint sind die Tante, ihre Schwester und deren Mann. Den Onkel erwähnte die Gräfin hier wohl deshalb nicht, weil er bereits 1690 starb.

[6] „Cette famille n‘avait point d‘enfants, ils devinrent tous trois idolâtres de moi, et ces trois personnes si qualifiées par leur mérite et si distinguées par les vertus les plus éminentes se mirent (si j‘ose me servir de cette expression) sous la tutelle d‘un enfant gâté. J’étais dispensatrice des grâces et franc arbitre de tout ce que je jugeais ou proposais. Si par punition on me privait d’une partie de plaisir pendant une heure, toute la maison était en mouvement pour m’en obtenir de plus attirante le lendemain. Voilà à peu près mon éducation pendant les premières années de ma vie, où l’aveugle tendresse de mes parents me nourrissait de fiel et d’absinthe pour la conduite de mon coeur et de mes sens, comme il me repaissait de flatterie, de douceurs et de complaisance, venin très dangereux et mortel sans le secours d’une grâce divine particulière sur laquelle personne ne peut et n’ose compter.” Daumas/Ulbrich (Hg.): Mémoires, S. 78f.

[7] Rudolf M. Dekker: Childhood, Memory and Autobiography in Holland: From the Golden Age to Romanticism. New York 2019, S. 6f.; vgl. Philippe Ariès, Die Geschichte der Kindheit, erstmals Paris 1960.

[8] Daumas/Ulbrich (Hg.): Mémoires, S. 138.

[9] Siehe https://mijngelderland.nl/inhoud/verhalen/bewoners-van-rosendael-jan-en-janne-margriete-van-arnhem .

[10] Bei der Kusine handelt es sich wohl um Christine Luise von Schönrad und Heyden (†1725) und nicht um ihre Schwester Johanna Agnes Charlotte, da letztere später Stiftsdame in Herdicke wurde, die Memoiren aber eine Hochzeit der Kusine erwähnen; Christine Luise heiratete 1710 den Grafen Ludwig Roeleman von Bylandt. Die Eltern der beiden Mädchen und ihres Bruders Gottfried von Schönrad und Heyden waren Goswin Adolf von Schönrad und Heyden und Charlotte Elisabeth, geborene von Heyden, die eine Schwester des Vaters der Memoirenautorin war. Der Onkel und die Tante, bei denen die Kusine aufwuchs, waren Friedrich von Heyden, ein Bruder des Vaters unserer Gräfin, und Christine, geborene Gräfin Bylandt.                                                                            

[11] Daumas/Ulbrich (Hg.): Mémoires, S. 99.

[12] Richardson, Tim: The Arcadian Friends. Inventing the English Landscape Garden. London u.a. 2011, S. 44–46.

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